4. Mai 2013

3. Mai 2013

Illusorisch sein.

Originalbild: Ideoda
Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Es war die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Einem Leben im Luxus. Dem Luxus, den es in ihrer Heimat nicht gibt. Sie träumte von einem Leben mit sauberem Trinkwasser, ohne anhaltendem Hungergefühl und einem wärmenden Bett. Er war zuvorkommend, lud sie zum Essen ein und erzählte ihr vom Leben in seiner Heimat. Von den Möglichkeiten die in 10'683 km Entfernung auf sie warten würden. Noch bevor das Flugzeug den Himmel über ihrem Land verliess und noch bevor es ihr unbekannte Länder überflog, zweifelte sie zum ersten Mal an ihrer Entscheidung. Selbst der Ring, den sie nun beide tragen, konnte ihr in diesem Moment keine Sicherheit bieten. Sie liess ihre Heimat hinter sich, um in der Ferne ein Leben zu leben, von dem sie so gut wie nichts wusste. Später wusste sie ebenfalls nicht, zu welchem Zweck sie solche Kleider tragen musste. Ebenso verstand sie nicht, weshalb er sie morgens nicht mehr mit dem selben Lächeln wie in ihrer Heimat begrüsste und wieso die Freundlichkeit schon bald ganz dahinschwand. Eines Abends gingen sie in dieses Haus. Hier befände sich ihr neuer Arbeitsplatz. Er zeigte ihr das Zimmer. Es war kalt. Dunkel. Spärlich eingerichtet mit einem Bett und einem Stuhl. Das Zimmer lag im dritten Stock, die Fenster waren mit Gittern versehen. Sie wussten wieso. Eine Dusche gab es am Ende des Korridors. Dann liess er sie alleine. Ihr erster Kunde roch nach Zigarre und Whiskey. Er keuchte und schwitze, krallte sich mit seinen Fingern in ihre Haut. Er stöhnte Dinge in ihr Ohr, die sie nicht verstand. Und er lächelte dabei. Die Abende und Nächte verliefen in erdrückender Monotonie. Nur die Tage erfuhren eine Variation. Es gab Tage, an denen er sie in Ruhe liess, sie mit kochen, putzen und dem Zählen der Stunden bis zum Abend verbrachte. Nach draussen durfte sie nicht. Diese Tage zählte sie zu den Guten. An all den Anderen, welche weitaus häufiger vorkamen, forderte er seine Rechte als Ehemann ein und liess sie seine Pflichten als Arbeitgeber spüren. Bei unter sechs Kunden in der vergangenen Nacht war seine Pflichterfüllung als akkurater Unternehmer noch Tage später sichtbar. Doch sie, sie kannte ihre Rechte nicht. Nur ihre Pflichten. Und sie wusste ebenfalls, was mit ihrer Familie passieren würde, falls sie sich zum Gehen entschloss. Sie blieb. Und behielt die Sehnsucht nach einem besseren Leben. Ihr blieb nur eine zerknitterte Postkarte von ihrer Heimat. Und die Illusion von einem Traum.

30. April 2013

Zu spät sein.

Er würde bleiben, wenn er könnte. Und er würde wohl auch gehen, wenn er könnte. Beides bleibt ihm aber verwehrt. Er liegt hier, gefangen in seinem Körper. Seit Wochen besuchen ihn seine Freunde und seine Familie. Zeichen seinerseits, dass in ihm noch Leben ist, das wieder erwachen wird, bleiben gänzlich aus. Auch sie kommt hierher, beinahe täglich. Sie sitzt auf dem Stuhl, der dicht an seinem Bett platziert ist. Und sie erzählt in gleichgültiger Monotonie vom vergangenen Tag. Von der Arbeit, von ihrem gemeinsamen Sohn, der Tochter und von der Sanierungsbedürftigkeit ihres Hauses. Doch es sind nicht diese Lappalien, die Raum und Zeit bräuchten, um erzählt und gehört zu werden. Es sind die Dinge, die in den letzten Jahren zwischen ihnen gestanden haben. Die Geschichten, über die sie nie gesprochen und sie in ein immerwährendes Schweigen getrieben haben. Sie möchte davon erzählen, wie sie sich vor einigen Jahren in einen anderen Mann verliebt hat. Und auch davon, dass sie auf den richtigen Moment gewartet hat, um Klarheit zu schaffen. Sie wollte ihm sagen, dass ihre Liebe zu ihm schon lange versiegt ist. Und auch, dass sie ihn verlassen werde. Doch der Moment kam nicht. Was kam, war der Unfall. Und nun liegt er da. Wehr- und schutzlos. Und er schweigt. Er schweigt, wie er es schon immer getan hat. Was sie einst so wütend gemacht hat, treibt sie heute in die Verzweiflung. Er wird ihr nicht mehr zuhören können. Und sie würde ihn, ohne die Wahrheit gesagt zu haben, gehen lassen müssen. Sie geht. Er bleibt. So wäre es gewesen, wenn sie ehrlich gewesen wäre. Doch es macht keinen Unterschied. Sie geht auch so. Und er bleibt auch so und wartet darauf, gehen zu können. Für ihn bleibt nichts. Und für sie ist da die Lüge, die bleibt. Es ist der Geruch, der in den Kleidern steckt. Und es sind die Erinnerungen an eine Zeit vor dieser Zeit. Und es ist die Scham, die sie auf Schritt und Tritt begleiten wird. Doch es ist zu spät für die Wahrheit. Für immer.

25. April 2013

Bodenlos sein.

Originalbild: Freakme
Sie lief schon seit Monaten, immer tiefer in den endlos sich hinziehenden Wald. Die letzte Lichtung lag weit zurück. Sie ging immer weiter. Ziellos, planlos, doch frei war sie nicht. Die schmerzenden Füsse spürte sie kaum mehr, auch nicht die zerkratzen Arme und auch nicht die ausgetrocknete Kehle. Nur der Hunger und die endlose Sehnsucht brachten sie um den Verstand. Sie zerbrach an ihrem Verlangen nach Nähe und entfernte sich dennoch immer weiter. Bei jedem Scheideweg versuchte sie den richtigen Kurs zu wählen. Doch jeder Weg schien falsch. Jeder Weg führte nur noch tiefer ins Dickicht. Jeder Schritt brachte sie weiter fort. Von sich und von allem. Doch plötzlich wurde es hell. Der Wald lag hinter ihr und vor ihr, in weiter Ferne, der Horizont. Doch sie wagte nicht, ihren Blick dorthin zu lenken. Vor ihr lag das Bodenlose. Die Leere. Jede Unachtsamkeit würde sie stürzen lassen. Jeder Fehltritt bedeutete den sicheren Tod. Doch zurück konnte sie nicht. Sie schloss die Augen, spürte den Wind in ihrem Gesicht. Sie atmete tief, hob ihren Fuss, trat an den äussersten Punkt des noch existierenden Haltes. Sie war bereit zu springen. Zu gross war die Angst. Die Dunkelheit hatte seine Spuren hinterlassen. Sie liess die Augen geschlossen, sah die Hand, an der ihr Leben hing. Sie konnte sie nicht daran festhalten. Sie hätte alles mitgerissen. Sie ging alleine. Er hörte den Aufschlag und dann wurde es ruhig. 

22. April 2013

Versteckt sein.

Originalbild: Plasticknife
Das Lachen der Kinder ist unüberhörbar. Sie zählen laut bis zehn, rennen los und suchen jeden Winkel ab. Sie hat als Kind gerne Verstecken gespielt, hat sich die besten Schlupflöcher ausgesucht und wurde immer als Letzte gefunden. Das Spiel ging weiter, doch mit den Jahren wurde sie mit der Wahl ihrer Verstecke nachlässiger. Gefunden wurde sie immer. Und häufig von Menschen, von denen sie nicht aufgespürt werden wollte. Sie waren plötzlich da, in ihrem Refugium und zerrten sie aus diesem Ort. Einem sicheren Ort. Einem ruhigen Ort. Sie ging mit in eine Welt, die nicht die ihre war. Sie lebte an Orten, an denen sie sich nicht zu Hause fühlte. Und sie war in Gesellschaft von Menschen, die ihr fremd waren; und immer blieben. Eines Tages gab sie das Spiel, das den Charakter eines solchen schon vor Jahren verloren hat, auf. Sie wurde ohnehin gefunden. Und schliesslich hatte sie irgendwann einen Ort gefunden, den sie mochte, der beinahe ein zu Hause geworden wäre. Beinahe. Sie hatte sich getäuscht. Die Tage vergingen und die Erinnerungen an die endlosen Stunden unter ihrem Bett kamen zurück. Auch sein Lachen versiegte irgendwann. Auch seine Stimme wurde immer lauter. Und seine Hände immer grober. Sie ging ohne ein Wort. Sie wollte ihre Kindheit nicht noch einmal erleben. Nicht noch einmal die Schläge spüren. Nicht noch einmal Schmerzen erfahren, die Missachtung und Unterdrückung hinterliessen. Dieses Mal suchte sie sich ein todsicheres Versteck. Einige Zeit wurde sie noch gesucht, doch bald wurde die Suche aufgegeben. Niemand machte sich mehr die Mühe, niemand war mehr daran interessiert, sie ausfindig zu machen. Sie blieb dort. Einsam. Leer. Leblos. 

16. April 2013

Anders sein.

Originalbild: Kjaeremandag 
Er fährt die Strecke seit 25 Jahren. Genauso lange arbeitet er schon in der Firma. Und seit ebenfalls 9234 Tagen packt ihm seine Frau jeden Freitag eine Portion vom Fischeintopf in seine Tasche. Er mag Routine. Er mag Gleiches. Er kennt die Strecke auswendig, genauso wie viele der Fahrgäste. Einige davon kommen und gehen. Andere bleiben. Doch in letzter Zeit kamen viele von denen dazu, die er überhaupt nicht mag. Sie riechen anders. Sie sprechen eine andere Sprache und haben manchmal sogar eine andere Hautfarbe. Sie gefällt ihm nicht, diese Veränderung. Er mag sie nicht, die, die anders sind. Er spricht normalerweise nicht viel, doch heute ist alles anders. Er sucht nach verletzenden Worten, hebt seine Stimme, fuchtelt mit den Armen. «Gesindel, Diebe, Schmarotzer, kriminell, faul, dreckig.» Es sind da viele Worte. Und es sind da viele Fahrgäste. Fahrgäste, die stumm bleiben. Niemand schreitet ein. Nur ein kleiner Junge fragt den alten Mann, wieso er denn so schimpfe. «Na, weil sie uns die Arbeit wegnehmen, nichts taugen und böse sind. Weil sie einfach anders sind.» Der kleine Junge entgegnet ihm, dass er doch auch anders sei als dieser Mann, ihn aber deswegen niemand beschimpfen würde. Und auch keiner habe etwas wegen seines stinkenden Fisches in seiner Tasche gesagt. Und sowieso, er sei nämlich auch anders, er habe als einziger in der Klasse eine Zahnlücke. Doch keiner habe ihn deswegen verhauen. «Es gibt doch eigentlich nur Andere.» Der alte Mann bleibt stumm. Nur der Andere lächelt dem kleinen Jungen zu. Und hofft, dass dieser kleine Junge in einigen Jahren noch immer so denken wird.

8. April 2013

Zeugen sein.

Sie nahmen ihr alles. Und hinterliessen viel. Die Tage ziehen in ihrer Monotonie vorbei, doch mit der Dunkelheit brechen die Zeugen das Schweigen. Sie schliesst ihre Augen, hört die Schreie, spürt das erdrückende Gewicht auf ihrem Körper, riecht den Geschmack von Gewalt, Schweiss und Alkohol. Sie möchte taub sein, gefühlslos, unter Anosmie leiden. Doch selbst dann wären die Hinterlassenschaften weiterhin Zeugen der Vergangenheit. Zeugen, die nie zu Ruhe kommen werden. Doch nicht nur die Narben, die Schmerzen und die Angst erheben ihre Stimmen. Sie hat überlebt. Und schämt sich. Für diese Scham findet sie nirgendwo einen Platz. Sie nahmen ihr alles. Da ist nichts mehr. Nicht über, nicht unter, nicht hinter und vor ihr. Leere. Um sie und in ihr. 

31. März 2013

Schutt und Asche sein.


Seit 730 Tagen lauscht sie den heulenden Klängen der Sirenen. Seit 730 Tagen blickt sie in das verzweifelte Gesicht ihrer Mutter. Seit 730 Tagen spürt sie, dass hier die Gefahr und der Schrecken hinter jeder Mauer lauert. Vor 730 Tagen hat sie das Licht der Welt erblickt. Eine Welt, in der mehr Dunkelheit als Licht herrscht. Eine Welt, die in Schutt und Asche liegt. Ihren ersten Geburtstag feierte sie im Bunker. Es gab Brot und Wasser. Niemand nahm ihr erstes Lächeln wahr, niemand streckte die Arme nach ihr aus, als sie die ersten wackligen Schritte wagte. In einer der Nächte, in dem sich der Himmel vom Feuer rot färbte und der Rauch in den Augen brannte, liessen sie alles zurück. Nicht einmal ihre Lieblingspuppe konnte sie mitnehmen. Doch sie hat in den 730 Tagen bereits gelernt, dass ihre Bedürfnisse in dieser Welt keinen Platz finden. Die Nacht war kalt und sie wurde von einem fremden Mann getragen. Ihrer Mutter fehlte die Kraft. Gegen Mitternacht erreichten sie den Lastwagen. Die Strasse war uneben und kurvig, es roch nach Erbrochenem. Sie fuhren die ganze Nacht und den kommenden Tag verbrachten sie in einem abgelegenen Haus. 
Nach Einbruch der Dunkelheit mussten sie weiter. Sie bestiegen das alte Boot. Niemand wehrte sich, als die Schlepper immer mehr Menschen einstiegen liessen. Keiner wollte zurück bleiben. Die Dunkelheit verschlang den Horizont. Es war alles schwarz. Morgen wäre sie zwei Jahre alt geworden. Sie erreichten das Ufer der griechischen Insel nicht. Ihre Lieblingspuppe wurde von einem kleinen Jungen am Strand gefunden. Ihre Mutter hatte sie doch noch mitgenommen. Vergebens.

27. März 2013

Im Kreislauf sein.

Ich nehme deine Hand. Ich spüre deine Haut, sie ist kalt. Noch vor nicht zu langer Zeit war es genau umgekehrt, da hast du meine Hand genommen. Du hast daran sachte gezogen, wenn ich nicht weiter gekommen bin. Du hast mich geführt, wenn der Weg gefährlich oder er mir fremd war. Ich würde dich gerne festhalten, nicht fortgehen lassen. Doch du gehst. Für immer. Und ich lasse deine Hand los. Doch meine Hand bleibt nicht leer. Es liegen warme Hände in den meinen. Kleine Hände, die mir immer wieder entwischen. Ich nehme diese Hände, ziehe sie nicht in eine Richtung, zeige ihnen nur die Wege, die möglich sind. Doch irgendwann werden auch diese Hände grösser und ich lasse sie los. Doch sie werden nicht kalt sein, gehen voller Wärme. Und dann, vielleicht, werden sie mich einmal halten. Und die kalte Haut spüren. Und mich gehen lassen müssen.

15. März 2013

Fehlbar sein.

Originalbild: Wicia
Sie blättert im Fotoalbum. Sieht sich die Bilder an. Sieht ihn als Baby. Als kleiner Junge. Als Teenager. Sie erinnert sich an das Versteckspielen, das stundenlange Geschichten erzählen, seine Einschulung und auch an seinen ersten Liebeskummer. Sie schliesst die Augen und versucht sich die Tage zu vergegenwärtigen an denen sich alles änderte. Den Tag, als die Polizei vor der Haustür stand und nach ihrem Sohn suchte. Den Tag der Gerichtsverhandlung. Den Tag, als er seine Haftstrafe antreten musste. In diesen Tagen hat er seinen Vater, seine Schwester und all seine Freunde verloren. Nur sie ist ihm geblieben. Sie konnte sich nicht abwenden, besuchte ihn heimlich. Ihre Gedanken, ihre noch immerwährende Liebe teilte sie mit niemandem, nicht einmal mit ihrem Ehemann. Er war doch ihr Sohn. Er war es, den sie nach einer schwierigen Geburt in ihren Armen hielt. Er war es, der für sie die Welt zum Stillstand brachte. Bei der Geburt und an diesem Tag, der alles veränderte. Bei all den Besuchen im Gefängnis immer wieder die gleiche Frage: «Warum hast du das gemacht?» Und immer kam die selbe Antwort. «Weil ich ein schlechter Mensch bin.» Sie wollte es nicht hören. Er war kein schlechter Mensch. Er war ein fehlbarer Mensch. Hat Dinge getan, für die er zurecht ins Gefängnis musste. Doch verdient er nicht eine zweite Chance? Es heisst doch, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Tut es das wirklich? Wenn nicht, wer urteilt dann? Die Opfer. Das Gericht. Die Gesellschaft. Sie blättert im Fotoalbum. Einige Seiten sind leer. Sie hätten sie noch füllen können, er hatte eine zweite Chance bekommen. Doch wie sollte er sie nutzen. Allein und von der Welt abgeschrieben. «Für mich ist kein Platz mehr auf dieser Welt.» Sie legt den Brief sachte zwischen die letzen Seiten. Und schliesst das Buch.

7. März 2013

Tradition sein.

Originalbild: Island Joe
Sie schreit, zittert vor Schmerzen, versucht sich zur Wehr zu setzen. Acht Hände halten sie unsanft fest, lassen jedes Auftürmen einstürzen. Sie ist chancenlos. Ihre Augen hat sie geöffnet, schaut mit glasigem Blick zum Himmel. Sie sieht die vorbeiziehenden Wolken und versucht ihrem Weg zu folgen. Sie möchte ihrem Körper entfliehen. Doch es gelingt ihr nicht. Tradition als Gutheissung. Schmerzen als Indikator für Reife. Verweigerung als Grund für Ausgrenzung. Säuglinge, kleine Mädchen und junge Frauen verlieren einen Teil ihrer Weiblichkeit. Um ihre Sexualität kontrollieren und ihre Jungfräulichkeit konkret nachweisen zu können. Und um ihre Treue in der Ehe sicherzustellen. Die vermeintlich Starken finden einmal mehr keine andere Möglichkeit, als Unmenschlichkeit walten zu lassen. Sie streben nach Kontrolle und Macht, möchten diese nicht verlieren. Der Verlust, welcher die Frau zu beklagen hat ist dabei bedeutungslos. Es sind Jahre vergangen. Aus dem kleinen Mädchen wurde eine junge Frau. Die Schmerzen sind allgegenwärtig. Ebenso die Unterdrückung und die Fremdbestimmung. Ein Initiationsritus, der sie vom Mädchen zur Frau machen sollte. Doch sie ist damals gestorben. Als Frau. Und als Mensch.

5. März 2013

Mitmensch sein.

Sie wohnt hier schon länger. Genau genommen seit neun Jahren, als sie mit 17 von zu Hause ausgezogen ist. Ihre Mutter heiratete damals wieder und plötzlich war alles anders. Er kam fast jede Nacht, während ihre Mutter arbeiten musste. Sie hat versucht mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, doch sie wurde von ihrer eigenen Mutter als Lügnerin bezichtigt. So kam sie hierher. In die 6c. Alleine. Und sie blieb es auch. Besuch hatte sie nur selten, sie war eine ruhige Mieterin. Doch seit einigen Wochen geht nun ein Mann ein uns aus. Den nächtlichen, lustvollen Geräuschen nach zu urteilen, musste es sich dabei um ihren Freund handeln. Den Nachbarn sind die Besuche nicht entgangen und hinter ihrem Rücken blieb keine Stimme stumm. Erst als sich die zarten Geräusche in lautes Poltern wandelten und die wütenden Stimmen lauter wurden, wurden ihre Stimmen leiser. Traf man die junge Frau von der 6c im Treppenhaus nicke man flüchtig und eilte an ihr vorbei. Wie sollte man ihr Gesicht, das die Geschichte der lautstarken Nächte mit deutlicher Stimme erzählt, erkennen können, wenn man den Blick abwendet. Die Streitereien wurden zunehmends lauter. Die Nachbarn konnten dank der Ringhörigkeit des Hauses am Leben der Frau in der 6c teilhaben. Sie lauschten still, erschraken an den richtigen Stellen und malten sie insgeheim ein Ende des Filmes aus. Doch nichts geschah. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Das ältere Ehepaar über ihr liessen sich ihren wöchentlichen Lieblingskrimi weiterhin nicht entgehen, der Mieter rechts von ihr ging noch immer täglich ins Fitnessstudio und die Hausmeisterin wusste noch immer über jeden etwas zu berichten. Doch bei der jungen Frau aus der 6c blieb sie stumm. Auch dann, als der Mann nicht mehr kam. Und auch dann, als die junge Frau ihre Wohnung nicht mehr verliess. Erst an dem Tag, als die Tür aufgebrochen wurde, brach sie das Schweigen. Die Augen konnten bis dahin verschlossen werden, den unangenehmen Geruch wollte aber niemand länger aushalten. Man fand sie im Schlafzimmer. Die Tablettendose lag auf dem Fussboden. Den Brief fand man in der Küche. Er richtete sich an ihre Welt. Die Welt, in der sie lebte. Die Welt, in der sie einsam war und allein gelassen wurde. Vom Anfang bis zum Schluss. Und die Hausmeisterin wusste schon immer, dass alles so enden würde.

28. Februar 2013

Wertlos sein.

Ich gebe dir mein Wort. Es über die Lippen zu bringen fällt mir auch gar nicht schwer. Mein Wort, es ist ein Geschenk an dich. Hübsch verpackt mit Schleife. Doch irgendwann werde ich zurückfordern, was mir einst gehört hat. Ich werde mein Wort brechen, es in tausend Stücke reissen. All die Worte und leeren Versprechungen, die leer bleiben. Keine Gefühle und Handlungen, die sie lebendig machen könnten. Bald schon werden sie verblassen und in Vergessenheit geraten. Von Links nach rechts und von oben nach unten - überall werden sie verteilt. Die schön verpackten Worte. Der Honig fliesst und die Lippen schmecken süss. Zu süss. Zurück bleibt eine klebrige Masse. Die Lippen bleiben geschlossen. Kein Widerspruch, keine Auflehnung. Stummes hinnehmen. Die leeren Worte haben gewonnen. Was bleibt ist der unangenehme Nachgeschmack, denn ändern wird sich nichts. 

27. Februar 2013

Ausgespielt sein.

Den Stock hat er im Wald gefunden. Mit glänzenden Augen und voller Stolz trägt er ihn durch das Dorf. Ein einfacher Stock, dem manch einer keine Bedeutung beimessen würde. Doch für ihn wird das Fundstück in den nächsten Tagen etliche Wandlungen durchmachen. Einmal Zauberstab und Musikinstrument, später Kanone und Gewehr, dann wieder ein imaginären Waldgeist. Es ist ein Spiel. Und er wird lernen, wo das Spiel endet und an welche Regeln er sich in diesem Spiel zu halten hat. Er geht in diesem Spiel auf, entdeckt seine Stärken, gewinnt Vertrauen. Sein Freund wohn ein Dorf weiter. Beide würden hierzulande kurz vor der Einschulung stehen. Sein Freund hat keinen Stock gefunden. Fiktive Figuren erfindet er keine mehr. Er hat das Spiel verloren. Ihm wurde das Gewehr in die Hände gedrückt. Mit leerem Blick und voller Angst schleift er die Waffe durch das Dorf. Die Last ist in vielerlei Hinsicht zu schwer für ihn. Ein einfaches Gewehr, das in den nächsten Tagen keine Wandlung durchmachen wird. Es wird immer ein Gewehr bleiben. Wird Unheil anrichten. Er wird lernen, dass er tun muss, was ihm befohlen wird, selbst wenn er auf seine Familie zielen muss. Und auch, wenn er seinen Freund erschiessen soll. Er, der vielleicht gerade am Zaubern war. Doch kein Zauberspruch der Welt wird an der Tatsache etwas ändern. Weder die Waffenloby, noch Verbrecher wie Joseph Kony verstehen die Sprache dieser kleinen Zauberer. Menschlichkeit bleibt für sie ein Fremdwort. Sie werden weiter gedankenlos ihre Waffen verkaufen, Kinder vergewaltigen, ihnen Gewehre in die Hände drücken oder sie als menschliche Schutzschilder missbrauchen. Sie missbrauchen diese Kinder, die gar keine Kinder mehr sind. Wir haben sie geschaffen und wir vernichten sie.

22. Februar 2013

Fassungslos sein.

Originalbild: M. Damian
Er steht da. Fassungslos. Er sucht verzweifelt nach zwei Augen, in die er schauen kann. Augen, die ihm seine Angst mildern könnten. Plötzlich lag sie auf dem Fussboden. Regungslos. Er bittet sie aufzustehen. Doch sie bewegt nur langsam den Kopf hin und her. Er ruft die Ambulanz. Die Minuten verstreichen und sie liegt noch immer auf dem Fussboden. Minuten, die sich anfühlen wie Stunden. Die Zeit steht still und nichts geschieht. Er steht nur da. Fassungslos. Dann endlich sind sie da. Erfassen die Situation. Sie wird zum Krankenwagen gebracht. Sie schaut ihren Mann an. Flehend. Bittend. Verzweifelnd und voller Angst. Sie schaut in seine Augen. Augen, die vor Hilflosigkeit nichts mehr fokussieren können. Die Erinnerungen ziehen vorbei. Sie schieben sie mit der Bahre in den Wagen. Er steht da. Fassungslos. Man bittet ihn einzusteigen. Und er weiss nicht, ob dies die letzte Reise sein wird, die sie gemeinsam antreten werden.

21. Februar 2013

Es muss Liebe sein.

Originalbild: Pendragon
Er steht vor ihr. Sie sieht ihn das erste Mal. Die Kälte in seinem Blick erinnert sie an ihre Brüder, ihren Vater und ihren Onkel. Er soll es sein. Der Mann ihres Lebens. Sie wird nicht nach ihren Träumen gefragt, geschweige denn nach ihrem Willen. Ihr Leben ist nicht ihr eigenes. Es ist das der Anderen. Freiheit kennt sie nur von Erzählungen, das Gefühl bleibt ihr verborgen. Der Wunsch nach Freiheit wird nicht geduldet und ihre Stimme wird immer leiser. Jeder Aufschrei zieht Folgen mit sich. Schmerzhafte. Unterdrückung und Gewalt beherrschen ihren Alltag. Die Liebe findet bei dieser patriarchalischen Moral keinen Platz. Menschen stehen im Zentrum und doch ist die Unmenschlichkeit an vorderster Front. Sie leistet keinen Widerstand. Sie trägt das Bild ihrer Freundin für immer mit sich. Ihre Freundin war 15. Sie wollte frei sein. Ihren Wunsch verletzte die Ehre ihrer Familie. Man fand sie im Wald. Alleine. Ist sie nun frei?

18. Februar 2013

Planlos sein.

Er sitzt am Tisch. Der Plan liegt vor ihm. Er zeichnet mit leichter Hand. All die Dinge bekommen ihren Platz zugeteilt, selbst die Topfpflanze hat einen festen, auserlesenen Standort. Die Präzision der Linien, die durchdachte  Aufteilung und das Ausschöpfen jedes Winkels zeugen von minutiöser Planung.
Er sitzt am Tisch. Denkt an den gestrigen, ausserplanmässigen Abend. Er legt den Stift beiseite und nimmt das Papier in seine Hände. Zurück bleibt ein Papierball. Er gehört hier nicht mehr hin. Grund und Boden haben Risse. Der Raum bleibt verschlossen, er hat ihn sich selber genommen. Er bleibt allein, sein Platz war hier. 

17. Februar 2013

Im Zwischenraum sein.

Originalbild: T. Bachmann
Nicht mehr hier und noch nicht dort. Anderswo. Im Raum dazwischen. Zwischen hier und dort. Im Aufbruch. Zwischen alt und neu. Ein Leerraum. Ein Raum, unbewohnt und fremd und doch so warm. So viel Leben, selbst wenn die Bücher in den Regalen, die Bilder an den Wänden und der Duft vom Alltag noch fehlen. In diesem Raum ist nichts. Und doch alles. Hier geh ich nicht mehr weg.

12. Februar 2013

Formlos sein.

Das grelle Licht verwehr ihm die Sicht. Blind vor Wut, Angst und Trauer hastet er scheinbar ruhelos durch die Dunkelheit. Sie lauert da draussen. An jeder Ecke und hinter jedem Winkel. Trotz stechendem Licht, bleibt seine Welt und ihre Wahrheit in der Dunkelheit verborgen. Er schliesst die Augen; die Finsternis folgt ihm nicht. Seine Sinne erwachen zum Leben. Er lauscht den vielen Silben, spürt das Pochen in seinem Innern. Selbst den Duft seiner Welt nimmt er wahr. Eintönigkeit liegt in der Luft. Die Facetten sind unlängst verflüchtigt. Er sieht sein Leben in seinen Konturen, fährt gedanklich jeder Linie nach. Eine beinahe formlose Silhouette. Die Linien halten den Berührungen nicht stand. Ein strukturlose, in sich nicht schliessende Figur. Für eine Ganzheit fehlen zu viele Stücke. Er hat ihnen die Leuchtkraft selbst entzogen. Er öffnet die Augen und springt.

8. Februar 2013

Zeitlos sein.

Das Rad der Zeit dreht sich. Unaufhaltsam jagt es mit rasantem Tempo durch die Strassen des Lebens. Die Vergangenheit zieht an uns vorbei, die Zukunft rückt näher. Vom Schwindel geplagt, wird der Ausstieg ein Ding der Unmöglichkeit. Wir rennen, eilen und hasten. Das Tempo zu drosseln erscheint uns unangebracht, denn jeder möchte der erste sein. Besser, schneller, schöner, mächtiger und reicher. Reich an Routine. Mächtig im Verleugnen. Schöner im Schein. Schneller im Resignieren. Besser im Verlieren.

7. Februar 2013

Visuell sein.

Wir müssen nicht erst lernen zu sehen. Zwar sieht ein Neugeborenes die Welt noch verschwommen, doch entgehen tut ihm nichts. Sein Entdeckungsdrang ist unersättlich. Erst mit der Zeit verlernen wir, unseren Augen zu trauen. Erfahrungen, Verletzungen, Angst und Dinge der Zeit verzerren den Blick. Wir sehen, was wir sehen wollen und können. Verschliessen die Augen vor Dingen und Menschen. Selbst unser Spiegelbild bleibt eindimensional. Unser Blick bleibt an der Oberfläche haften, wir projizieren oder schauen durch die Menschen hindurch. Wer wirklich vor uns steht sehen wir nicht. Der Wahrheit ins Gesicht zu blicken kann schmerzhaft sein. Oder Welten öffnen. Augen öffnen. Vertrauen schaffen.

6. Februar 2013

Befallen sein.

Wie Viren befällt sie ihn. Überträgt sich, vermehrt sich. Nistet sich ein im innersten Kern und verrichtet dort ihr Unheil. Sie schwächt. Fiebertrunken irrt er umher. Mit aufgeschlagenem Knie, verstauchtem Knöchel und kraftlosen Händen hält er sich an Menschen und Dingen fest, die ihm den nötigen Halt nicht geben können. Die Angst ist sein bester Freund. Und schlimmster Feind. Er möchte immun sein, doch käme dies einer Resignation gleich. Er will den Zug ins Leben nicht verpassen. Er findet den Ticketautomaten nicht. Der Zug fährt ein. Ab. Ohne ihn. Der nächste kommt bestimmt. Zu gegebener Zeit.

5. Februar 2013

Auf Irrwegen sein.

Ihre Runden im Garten dreht sie jeden Tag. Der Frühling kommt zum vierten Mal. Doch das Erwachen sieht sie längst nicht mehr. Sie läuft und läuft, sucht verzweifelt nach einem Weg. Einen Weg, auf den sie nicht mehr zurückfinden kann. Der Garten ist kein Labyrinth, doch für sie gibt es nur noch Irrungen und Wirrungen. Sie sucht nach ihrer Vergangenheit, nach einer Zukunft, sucht sich und andere - finden wird sie nichts. Eine harmlose Katze wird zum bedrohlichen Tiger. Bekanntes wird fremd. Die Angst sitzt tief. Angst vor den Tagen. Und den Nächten. Vor den Menschen und den Dingen. Vor sich selbst. Vor einem Leben, das nicht mehr ihr gehört.

Gleich sein.

Seine braunen Augen leuchten. Ein Schneeball trifft ihn am Kopf. Er lacht. Und revanchiert sich mit einem gekonnten Schuss. Sie raufen und lachen. Das Spiel endet, wenn einer Stopp sagt. Liegt einer am Boden, hilft ihm jemand auf die Beine. In diesem Spiel sind alle gleich. In ihrer Welt wird jeder einmal ausgeschlossen. Und das nächste Mal ist er wieder im Team. Ihre Welt ist voller Farbe. Und sie malen bunte Luftschlösser. Sie haben noch nicht gelernt, dass Hautfarbe, Herkunft, Religion oder die sexuelle Orientierung über Gut oder Böse entscheidet. Sie sind, wie sie sind. Und sie sind gut darin. Im Sein. 

1. Februar 2013

Verwehrt worden sein.

Die Steinplatten unter meinen Füssen bringen mich aus dem Gleichgewicht. Die unter ihnen liegenden Wurzeln haben sich ihren eigenen Weg gegraben. Auch meine Wurzeln liegen hier. Begraben zwischen all den fremden Namen und den dahinter verborgenen Geschichten. Blumen zieren die Erde vor meinen Füssen. Meine Gedanken sind oft hier, nur nicht dann, wenn ich tatsächlich hier stehe. Dann sind sie dort. Sie folgen dem Rauschen in der Ruhe. Der Wind weht. Kleine Windräder stecken in der Erde und drehen sich im Einklang mit dem Wind. Hie und da ein Spielzeug. Sie überkommt mich. Die Traurigkeit. Die Verzweiflung. Die Angst. All das Leben, das noch an seinem Anfang stand. Sie hatten kaum Zeit, sich ihren Platz auf der Erde zu suchen. Und nun sind sie hier, an diesem Ort. Sie hatten keine Wahl. Hier finden sie ihre letzte Ruhe, obschon die Ruhe wohl das Letzte war, was sie gewollt hätten. Es bleibt still. Nur die Windräder erinnern an den unbändigen Wunsch das Leben spielend zu erkunden. Ein Wunsch, der ihnen verwehrt wurde.

30. Januar 2013

Schuldig sein.

Schuldig! In allen Anklagepunkten. Einen Anwalt konnte sie sich nicht leisten. Doch die Pflichtverteidiger richten ihr Möglichstes - nach bestem Wissen und Gewissen. Die Geschworenen erkennen die Reue. Die Verfehlung. Lassen aber auch die Liebe, die Hoffnung und die Angst als Beweismittel zu. Dafür gerade stehen, auch wenn das Stehen gerade nicht einfach ist. Freigesprochen werden.

25. Januar 2013

Gut sein. Schlecht sein.

«Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.» Doch wer entscheidet über gut und schlecht. Wenn eine Mutter, die sich aktiv für Menschenrechte und die Rechte der Frauen in einem Land einsetzte oder minderjährige Straftäter vor dem Tod bewahren wollte zu einer Haftstrafe von elf Jahren verurteilt wird. Wenn Kinder von sogenannten Heiligen missbraucht werden und unbestraft bleiben. Wenn die freie Meinungsäusserung mit Gewalt und Gefängniss beantwortet wird. Und auch, wenn Asylsuchende ohne Lebensperspektiven im eigenen Land abgeschoben werden. Der Kropf ist unlängst voll. Nur sind Kropf und Topf vertauscht worden. Die vermeintlich Schlechten sind in Wahrheit die Guten. Und die anderen, die besitzen zu viel Macht um verschlungen zu werden. 

21. Januar 2013

Zweifellos sein.

Ständiges Ringen um Antworten, dort, wo es keine geben kann. Fragen, die unbeantwortet bleiben und nur durch die Zeit ihre Klärung finden werden. Vielleicht sollten wir aufhören, uns Fragen zu stellen. Vielleicht sollten wir nicht auf erlösende Antworten hoffen. Vielleicht sind die Fragen und Antworten einfach nicht genug wichtig. Vielleicht sollten wir Leben. Zweifellos.

18. Januar 2013

Gefangen genommen sein.


Er steht draussen vor der Tür, einsam im Schnee. Einst hat er die vorbeigehenden Menschen zum Staunen gebracht. Ihnen ein Lächeln entlockt. Sie stumm daran erinnert, wie einfach es ist zu lieben. Nur gegen den fallenden Schnee konnte er sich nicht wehren. Er bedeckte ihn mit einem kalten Mantel, der ihn nun gefangen nimmt. Nur vereinzelt lassen sich seine Konturen noch erkennen. Ich würde ihn gerne fragen, was geschehen ist. Doch er bleibt stumm. Und eigentlich kenne ich die Antwort bereits. Es hat geschneit. Er wurde eingeschneit. Ich stehe lange vor dem Schneemann, da draussen vor der Tür. Bewegungslos. Regungslos. Ich möchte nicht warten, bis die Wärme den Schnee schmelzen lässt, denn dann ist es zu spät. Er wäre weg. Ich nehme einen Besen und wisch ihm die Kälte aus dem Gesicht. Vom Körper. Bis er wieder da steht, wie er einst war. So, wie er die vorbeigehenden Menschen zum Staunen gebracht hat. So, wie er wirklich war.

Fehlend sein.

Sie geht ein letztes Mal durch die leere Wohnung. Sie hätte nicht gedacht, dass ihr der Abschied so einfach fallen würde. Selbst die mit Erinnerungen gefüllten Müllsäcke lösen nur wenig Wehmut aus. All die Dinge, die sich darin verstecken waren Teil ihres Lebens und nun verlässt sie mit nur einem Koffer dieses Leben. Sie hat spät gemerkt, dass sich wertvolle Dinge nicht in ein Bücherregal stellen lassen. In ihrem Koffer fehlen sie auch. Sie fehlen überall.

16. Januar 2013

Verdeckt sein.

Am Himmel ein graues Gemälde. Nebel verdeckt die Sicht. Das spärliche Licht der Sonne vermag die Nebeldecke kaum durchbrechen. Wir warten, bis sie sich den Weg frei macht. Bis sie endlich Licht ins Dunkle bringt. Doch es geschieht nichts. Der Nebel wird dichter. Ein orientierungsloser Lauf beginnt. Wir irren blindlings durch die Strassen und an jeder Ecke lauert ein Abgrund. Wir senken den Blick, damit wir die das fehlende Licht nicht sehen müssen. Stolpern, fallen hin. Bleiben liegen. Und sehen nicht, dass sich der Nebel lichtet. Es bleibt dunkel - in uns.

14. Januar 2013

Entschwunden sein.

Rauch steigt in den Himmel, entflieht dem ihm umhüllenden Schutz. Er vermengt sich mit dem kalten Nebel bis sich schlussendlich keine Differenzen mehr ausmachen lassen. Was einmal für Wärme gesorgt hat, wird kalt. Unaufhaltsam. Nichts bleibt mehr übrig.

Entstellt ein.

Er trägt sie schon lange, beinahe sein ganzes Leben. Ein Leben, das nicht sein eigenes ist. Doch er verkörpert seine Rolle gut, selbst wenn er den Film, den er spielt, nicht sonderlich mag. Immer wieder hört er die Stimme seiner Mutter, die ihn ermahnt: «Zeig nie dein wahres Gesicht. Es würde dich verletzlich machen und du würdest nur daran zerbrechen.» Er hat sich daran gehalten, bis zum heutigen Tag. Sie hatte recht, er wurde selten verletzt. Zumindest nicht von anderen. Nur die Einsamkeit und die Leere hinterliessen tiefe Wunden. Den Moment, um die Maske für immer abzulegen hat er verstreichen lassen. Sein Gesicht ist unlängst entstellt. Er erkennt sich nicht mehr, alles ist ihm fremd. Er ist nicht mehr. Nichts ist mehr. Nur noch die Scherben erinnern an seine Existenz. Sie lassen ihn verbluten.

11. Januar 2013

Schlaflos sein.

Originalbild: Rick Powell
Einfach aufwachen und alles ist gut. Wie aufwachen, wenn sie nicht einschlafen kann. Und wie einschlafen, wenn sich die Angst, er könnte morgens nicht mehr neben ihr liegen, wie eine Überdosis Kokain in ihrem ganzen Körper einnistet. Sie ist müde.

10. Januar 2013

Leer sein.

An den Bahnhaltestellen herrscht reges Treiben. Norbert kommt beinahe täglich hierher. Er scheint, als sei er gerne unter Menschen. Heute steigt er in den Zug und kann sich gerade noch einen Platz in der Mitte ergattern. Von hier hat er den besten Überblick, um die Menschenmenge zu beobachten. Jene, die ein- und aussteigen. Die, die sich hinter ihren Zeitungen verstecken. Und auch die, die mit leeren Blicken aus dem Fenster schauen. Kinder hat es um diese Zeit selten in der Bahn. Nur vereinzelt sieht er angespannte Mütter mit ihren Kleinkinder, die wohl gerade auf dem Weg zur Arbeit - mit Zwischenhalt in einer Krippe - sind. Die Kinder reiben sich ihre müden Augen. Norbert war nie in einer Krippe. Er hatte auch nicht wirklich eine Mutter. Auch wenn die Frau, die ihm das Essen jeweils auf den Tisch gestellt hat wollte, dass er sie so nannte. Am Tisch hat sie selten gesessen. Sie war ihm fremd. Sie kam ihm kaum einmal so nah, dass er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Er wusste nicht einmal, ob er sie mochte. Sie war einfach da. Und auf einmal war sie dann weg. Weg, wie alle Menschen in seinem Leben. Sie kamen und gingen wieder. Wie die Stationen dieses Zuges. Sie ziehen einfach vorbei. Die Menschen, die beim Einfahren in den Bahnhof grösser werden und ihm so näher kommen. Doch auch nur für einen Moment, denn schon im nächsten werden sie wieder kleiner und schon bald verschwinden sie ganz aus seinem Blickfeld. Sein Blick bleibt immer wieder an einzelnen Fahrgästen hängen. Es gibt die, die nur eine Station bleiben, andere fahren weiter. Norbert würde manche von ihnen gerne ansprechen und ihre Geschichte hören. Bestimmt aber nicht seine erzählen. Doch aufdringlich sein möchte er keinesfalls. Wollte er nie. Und was er noch viel weniger möchte ist, seine Illusionen zerplatzen zu lassen. Die junge Frau gleich gegenüber von ihm. Sie könnte Tänzerin sein. Sie wirkt zerbrechlich und zugleich stark. Sie möchte perfekt sein in allem was sie tut. Sie lebt ihren Traum. Doch sie würde ihm vielleicht auch ganz andere Dinge erzählen. Vom Alltag, der Routine. Von Dingen, die er nicht hören möchte. Oder vielleicht würde sie gar nichts erzählen. Ihm deutlich machen, dass er nicht erwünscht ist. Er kennt diesen Blick. Lieber bleibt er alleine. Ins Leben einzutauchen ist ihm zu gefährlich. Die Irrungen und Wirrungen. Die Verletzungen und Verluste. Etwas anderes kennt er nicht. Den letzten Fahrgast, der den Zug verlässt kennt er auch nicht. Norbert ist wieder alleine. Der Zug nähert sich dem Depot. Die Lichter erlöschen. Es wird dunkel. Die Angst ist vorbei.

9. Januar 2013

Ganz sein.

Du bist, was du bist, so heisst es. Du bist Mensch.
Du lässt dich nicht öffnen;  kein Skalpell gewährt den Blick auf deine Seele. Und wenn doch. Was würden wir sehen? Deine Gefühle, die Erinnerungen. All die alten Verletzungen und die, die noch immer bluten. Dein Leben. Dein Lachen, dein Weinen. Die schwarzen Flecken, die deine Haut so gut zu kaschieren weiss. Die Hülle, die selbst die dunkelsten Stellen in einem atemberaubenden Glanz erscheinen lassen. Von aussen betrachtet.
Die Vielfalt in dir. Das Ganze. Die Summe von allem. Und mehr. Berechnet wird immer wieder aufs Neue. Gestern noch König, heute schon Bettler. Und die Rechnung machst du nicht alleine. Alle wollen etwas beisteuern. Gütig wie sie sind. Die Mutter, der Lehrer, der böse Onkel, die Regierung, der Nachbar. Und am Schluss weisst du nicht mehr, woher all die Teilchen, von denen du die Summe bist, kommen. Du weisst nicht mehr, wer du bist, was du bist. Denn eigentlich bist du weitaus mehr, als die Summe deiner Teile. Du bist Mensch.

Luftlos sein.

Die Tür fällt ins Schloss; er ist zu Hause. Ein zu Hause, das weit mehr ist als nur die Wände, Decken und Möbel. Es ist das Daheim nach dem er sich lange gesehnt hat. Er weiss, dass er zuviel arbeitet, dass er in letzter Zeit vieles vernachlässigt hat. Und er ist froh, dass seine Frau keinen Druck auf ihn ausübt. Es ist immer alles in Ordnung. Hier, in seinem Daheim. Er streift seine Schuhe ab und lauscht der Stille. Die Kinder sind noch in der Schule. Was eben noch eine Annahme war, bestätigt sich mit dem Erklingen von sanften Tönen. Seine Frau liegt derweil in der Wanne und singt. Sie hat ihn kaum so früh erwartet. Und er kann es seinerseits kaum erwarten sie zu sehen. Er fühlt die Wärme des Wassers. Ihre Haut. Nur der Weg in die Küche, wo der Rotwein steht, trennt ihn vor seiner Phantasie. Auf dem Küchentisch steht ein Weinglas; halbleer. Und vor ihm liegt ein Brief.
«Ich mag, wie du mich anschaust. Dein Blick erzeugt in mir das Gefühl der Vollkommenheit. In deiner Gegenwart fühle ich mich attraktiv, interessant, einzigartig. Du verstehst es mich lebendig fühlen zu lassen. Ich mag, wie du über mein Haar streichst. Deine Hände auf meinem Körper erfüllen mich mit Wärme. Ich liebe es, dir beim Schlafen zuzusehen und mich eng an dich zu schmiegen. Mich schlafend zu stellen, während du mich verführst ist eines der schönsten Spiele überhaupt. Ich begehre dich so sehr. Und danke dir für jeden Moment, in dem du dein Begehren mir gegenüber zeigst. Dich in mir zu spüren haucht meinem Körper Leben ein. Ich mag es, wenn du mir Kaffee kochst. Und wenn wir barfuss durchs feuchte Gras gehen. Ich mag so vieles an, mit und wegen dir. Mit dir Fahrradfahren und dabei meine Arme auszustrecken. Weisst du eigentlich, wie glücklich ich mich dabei jeweils fühle? Nein, du kannst es nicht wissen, aber glaub mir, es ist raubt mir den Atem. Du raubst mir den Atem (...)».
Er lässt den Brief fallen,  zieht seine Schuhe an und geht. Sein Fahrrad steht in der Garage. Und seit über zehn Jahren ist die Luft raus. Endgültig.

7. Januar 2013

Grundsätzlich sein.















«Weisst du eigentlich, wie lieb ich dich hab?»
«Nein, woher soll ich das wissen. Wie denn?»
«Nun, grundsätzlich sehr.»
«Was meinst du denn mit grundsätzlich?»
«Na, dass ich dich im Grunde sehr lieb habe.»
«Du hast also deine Gründe, wieso du mich lieb hast?»
«Ja, die habe ich gewiss.»
«Und du wirst mir gleich verraten, welches diese Gründe sind?»
«Eben, die Grundsätzlichen.»
«Und die Anderen?»
«Die anderen was?»
«Die anderen Gründe.»
«Aufgrund der anderen Dinge habe ich dich eben grundsätzlich nicht lieb.»
«Du magst mich also nicht grundlos nicht?»
«Nein, gewiss nicht. Ich habe meine Gründe.»
«Welche denn?»
«Gute.»
«Und aus welchem Grund erzählst du  mir das alles?»
«Weil ich dich eben nur grundsätzlich lieb hab. Ich verlass dich also nicht grundlos.»
«Nein, du hast deine Gründe.»
«Ja, die habe ich.»
«Ja, die hast du.»
«Ja. Und selbst wenn nicht. Du weisst ja nicht einmal, wie lieb ich dich hab. Wie soll ich dich denn da grundsätzlich lieb haben können?»
«Immer diese Grundsatzfragen. Im Grunde mag ich dich ja auch nicht.»
«Ist das so?»
«Ja!»
«Gut.»
«Ja, gut.»
«Grundsätzlich gut, ja.»

4. Januar 2013

Distanziert sein.

Originalbild: T. Malyska
Sie sagt, was sie nicht mag.  Er hört, dass sie ihn nicht mag. Sie sagt, was sie sich wünscht. Er  hört, was er ihr nicht geben kann. Sie sagt, was sie glücklich macht. Er hört, dass er sie nicht glücklich macht. Sie möchte reden. Er schweigen. Sie möchte verstehen. Die Dinge und Undinge, die hinter und neben ihnen liegen. Verstehen, um sie nicht auch vor ihnen liegen sehen zu müssen. Um sie Ruhen zu lassen. Er möchte nur weitergehen. Er geht weiter. Alleine. Die Distanz  zwischen ihnen wird aber dadurch nicht grösser. Sie bleibt gross.