5. März 2013

Mitmensch sein.

Sie wohnt hier schon länger. Genau genommen seit neun Jahren, als sie mit 17 von zu Hause ausgezogen ist. Ihre Mutter heiratete damals wieder und plötzlich war alles anders. Er kam fast jede Nacht, während ihre Mutter arbeiten musste. Sie hat versucht mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, doch sie wurde von ihrer eigenen Mutter als Lügnerin bezichtigt. So kam sie hierher. In die 6c. Alleine. Und sie blieb es auch. Besuch hatte sie nur selten, sie war eine ruhige Mieterin. Doch seit einigen Wochen geht nun ein Mann ein uns aus. Den nächtlichen, lustvollen Geräuschen nach zu urteilen, musste es sich dabei um ihren Freund handeln. Den Nachbarn sind die Besuche nicht entgangen und hinter ihrem Rücken blieb keine Stimme stumm. Erst als sich die zarten Geräusche in lautes Poltern wandelten und die wütenden Stimmen lauter wurden, wurden ihre Stimmen leiser. Traf man die junge Frau von der 6c im Treppenhaus nicke man flüchtig und eilte an ihr vorbei. Wie sollte man ihr Gesicht, das die Geschichte der lautstarken Nächte mit deutlicher Stimme erzählt, erkennen können, wenn man den Blick abwendet. Die Streitereien wurden zunehmends lauter. Die Nachbarn konnten dank der Ringhörigkeit des Hauses am Leben der Frau in der 6c teilhaben. Sie lauschten still, erschraken an den richtigen Stellen und malten sie insgeheim ein Ende des Filmes aus. Doch nichts geschah. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Das ältere Ehepaar über ihr liessen sich ihren wöchentlichen Lieblingskrimi weiterhin nicht entgehen, der Mieter rechts von ihr ging noch immer täglich ins Fitnessstudio und die Hausmeisterin wusste noch immer über jeden etwas zu berichten. Doch bei der jungen Frau aus der 6c blieb sie stumm. Auch dann, als der Mann nicht mehr kam. Und auch dann, als die junge Frau ihre Wohnung nicht mehr verliess. Erst an dem Tag, als die Tür aufgebrochen wurde, brach sie das Schweigen. Die Augen konnten bis dahin verschlossen werden, den unangenehmen Geruch wollte aber niemand länger aushalten. Man fand sie im Schlafzimmer. Die Tablettendose lag auf dem Fussboden. Den Brief fand man in der Küche. Er richtete sich an ihre Welt. Die Welt, in der sie lebte. Die Welt, in der sie einsam war und allein gelassen wurde. Vom Anfang bis zum Schluss. Und die Hausmeisterin wusste schon immer, dass alles so enden würde.

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