10. Januar 2013

Leer sein.

An den Bahnhaltestellen herrscht reges Treiben. Norbert kommt beinahe täglich hierher. Er scheint, als sei er gerne unter Menschen. Heute steigt er in den Zug und kann sich gerade noch einen Platz in der Mitte ergattern. Von hier hat er den besten Überblick, um die Menschenmenge zu beobachten. Jene, die ein- und aussteigen. Die, die sich hinter ihren Zeitungen verstecken. Und auch die, die mit leeren Blicken aus dem Fenster schauen. Kinder hat es um diese Zeit selten in der Bahn. Nur vereinzelt sieht er angespannte Mütter mit ihren Kleinkinder, die wohl gerade auf dem Weg zur Arbeit - mit Zwischenhalt in einer Krippe - sind. Die Kinder reiben sich ihre müden Augen. Norbert war nie in einer Krippe. Er hatte auch nicht wirklich eine Mutter. Auch wenn die Frau, die ihm das Essen jeweils auf den Tisch gestellt hat wollte, dass er sie so nannte. Am Tisch hat sie selten gesessen. Sie war ihm fremd. Sie kam ihm kaum einmal so nah, dass er ihren Geruch wahrnehmen konnte. Er wusste nicht einmal, ob er sie mochte. Sie war einfach da. Und auf einmal war sie dann weg. Weg, wie alle Menschen in seinem Leben. Sie kamen und gingen wieder. Wie die Stationen dieses Zuges. Sie ziehen einfach vorbei. Die Menschen, die beim Einfahren in den Bahnhof grösser werden und ihm so näher kommen. Doch auch nur für einen Moment, denn schon im nächsten werden sie wieder kleiner und schon bald verschwinden sie ganz aus seinem Blickfeld. Sein Blick bleibt immer wieder an einzelnen Fahrgästen hängen. Es gibt die, die nur eine Station bleiben, andere fahren weiter. Norbert würde manche von ihnen gerne ansprechen und ihre Geschichte hören. Bestimmt aber nicht seine erzählen. Doch aufdringlich sein möchte er keinesfalls. Wollte er nie. Und was er noch viel weniger möchte ist, seine Illusionen zerplatzen zu lassen. Die junge Frau gleich gegenüber von ihm. Sie könnte Tänzerin sein. Sie wirkt zerbrechlich und zugleich stark. Sie möchte perfekt sein in allem was sie tut. Sie lebt ihren Traum. Doch sie würde ihm vielleicht auch ganz andere Dinge erzählen. Vom Alltag, der Routine. Von Dingen, die er nicht hören möchte. Oder vielleicht würde sie gar nichts erzählen. Ihm deutlich machen, dass er nicht erwünscht ist. Er kennt diesen Blick. Lieber bleibt er alleine. Ins Leben einzutauchen ist ihm zu gefährlich. Die Irrungen und Wirrungen. Die Verletzungen und Verluste. Etwas anderes kennt er nicht. Den letzten Fahrgast, der den Zug verlässt kennt er auch nicht. Norbert ist wieder alleine. Der Zug nähert sich dem Depot. Die Lichter erlöschen. Es wird dunkel. Die Angst ist vorbei.

3 Kommentare:

typ hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
typ hat gesagt…

Ich glaube, zu dem Text passt ein Titel, den ich mir mal für ein (immer noch ungeschriebenes) Werk überlegt hatte, ziemlich perfekt: "Ein Leben auf dem Abstellgleis".

Ansonsten verbindet der Text für mich zwei besonders interessante Motive - Zugfahrten und Einsamkeit. Das gefällt mir gut.

Missscheinsein hat gesagt…

Danke dir für deinen Kommentar. Und ja, dein Titel passt wirklich gut. Ich hoffe das Werk einmal irgendwo lesen zu können.