6. Dezember 2012

Verloren sein.

Der Tag fing wunderbar an. Eine streikende Kaffeemaschine, ein Loch in der Strumpfhose und ein ungemütliches Schneegestöber auf dem Weg zur Arbeit. Was folgte waren Marathonsitzungen, schlechtes Mittagessen und einen unzufriedener Vorgesetzten. Tage wie dieser gehören nicht auf Elisas Wunschliste. Auch nicht der noch ausstehende Termin mit einem der unbeliebtesten Kunden überhaupt. Einer, der die Laune - mag sie noch so gut sein - auf den Nullpunkt senken kann. Innert Minuten. Bei Frauen kann er seinen Charakter am besten zur Schau stellen. Er will mächtig sein. Und lässt dies spürbar werden.
Der anhaltende Schneesturm hat den öffentlichen Verkehr und den Strassenverkehr lahmgelegt. Elisa musste die Strecke zum Büro des Kunden zu Fuss gehen. Dort angekommen liess sie den Blick in den Spiegel bleiben. Sie wurde ins Sitzungszimmer geführt. Und sie traute ihren Augen nicht. Vor ihr sass nicht der unbeliebte Kunde. Es war Pablo mit seiner Assistentin. Elisas Erstaunen hielt sich mit dem von Pablo die Waage. Es mussten zehn Jahre her sein, seit sie sich das letzte Mal gesehen haben. Sie arbeiteten damals zusammen im selben Team. Kamen sich näher und mussten sich eingestehen, dass sich ihre Beziehung auf das Büro beschränken sollte. Elisa zog bald in eine andere Stadt und so verloren sie sich aus den Augen.
Zwischen ihnen lagen nun die zehn vergangenen Jahre. Das Erlebte. Die Erinnerungen. Doch vorerst sollte für all dies kein Platz sein. Es musste verhandelt werden. Und schneller als vermutet, brachten sie die wichtigsten Punkte auf einen Nenner.
Pablo war es, der das Gespräch als erster auf die persönliche Ebene brachte.
«Steht einem gemeinsamen Essen etwas im Wege?», wollte er wissen. Elisa mochte die Idee, etwas in Erinnerungen zu schwelgen - gerade an einem Tag wie diesem.
«Ich muss vorher kurz nach Hause. Duschen und umziehen. Du kannst gerne bei mir warten.»
Elisa war überrascht, dass Pablo in der Stadt eine Wohnung hatte, willigte jedoch ein. Sie wartete währenddessen im Wohnzimmer auf ihn, setzte sich in einen Sessel und nippt am Martini, der ihr Pablo serviert hatte. Sie stellte ihn aber gleich wieder hin, um ihre Jacke auszuziehen. Es war warm in der Wohnung. Und die Wärme umhüllt sie angenehm. Sie schloss für einen Moment die Augen, wollte den anstrengenden Tag hinter sich lassen. Sie entspannte sich immer mehr. Der Kopf wurde immer schwerer. Elisa nickte ein und bemerkte auch nicht, das Pablo bereits fertig geduscht hat und ins Wohnzimmer gekommen war.
Elisa begibt sich auf eine Reise. Es ist warm. Sie spürt eine Haut auf ihrer. Sie spürt die Fingerkuppen auf ihrem Unterarm. Dem Oberarm. Auf ihrer Brust. Auf ihrem Hals. Dann noch mehr Wärme. Auf dem Oberschenkel. Zwischen den Schenkeln. Ein Atmen. Eine Zungenspitze. Die Wärme überkommt sie. Und plötzlich ein Licht, dass den Weg durch ihre Lider findet. Sie träumt nicht, lässt dennoch die Augen geschlossen. Lässt alles geschehen. Seine sanften Hände sind überall. Er drückt sich an sie. Sie fühlt seine Lust. Sein Verlangen. Fühlt sich, ihm so ausgeliefert dennoch sicher. Geborgen. Er muss ihr bereits die Strumpfhose und den Slip ausgezogen haben. Und nun schiebt er ihr den Rock etwas höher und öffnet ihre Bluse. Pablo spielt das Spiel der schlafenden Elisa noch so gerne. Verwöhnt sie leidenschaftlich. Er dirigiert dieses Stück, würde aber nie einen Ton anschlagen, der missfallen könnte. Seine Hände streifen über sie, als ob er an einer fragilen Skulptur arbeiten würde. Seine Zunge liebkost jeden Zentimeter an Elisas Körper. Sie schiebt ihr Becken seinem Gesicht entgegen. Spürt seine Zungenspitze. Sie vergisst alles. Nur nicht den Raum um sie herum. Die Wärme. Den Moment. Hier in diesem Moment möchte sie bleiben. Verharren. Für einen Augenblick. Für die Ewigkeit.
Plötzlich steht Pablo auf. Dreht ihr den Rücken zu. Elisa öffnet erschrocken ihre Augen. Pablo steht vor ihr. Sie sieht die Narben, die den Rücken wir ein Gemälde zieren.
«Pablo?, flüstert sie.»
Er dreht sich um, nackt. In seinem Gesicht ist keine Regung zu sehen. Kälte. Härte.
«Ich bin seit fünf Jahren verheiratet. Und seit vier Jahren schlägt mich meine Frau.»
Er setzt sich auf den Boden und entschuldigt sich für sein Verhalten. «Tut mir leid, dass ich mich gehen lassen habe. Du hast mich einfach mitgenommen. In die Vergangenheit. In eine Zeit, wo alles noch anders war. Ich mich noch nicht verloren habe. Und ich mich sicher fühlte.»
Elisa laufen die Tränen über die Wangen. Sie möchte etwas sagen. Kann nicht. Sie kniet auf den Boden, dicht an Pablo und versucht ihn zu umarmen. Er wehrt sie ab.
«Bitte lass mich alleine. Es führt zu nichts. Es ändert nichts. Es tut mir leid.»
Elisa kennt Pablo. Kannte ihn. Damals vor zehn Jahren. Doch wer war dieser Mann, der da nackt vor ihr auf dem Fussboden sass. Er wirkt wie ein kleiner Junge. Verloren. Einsam.
«Lass dir helfen. Finde einen Weg da raus.»
Pablo schaut Elisa müde an und erwidert ihr, dass er seine Frau liebe. Egal, was passieren wird.
«Aber wieso ist das von eben dann geschehen. Du hast dich nach Nähe gesehnt. Nach Zärtlichkeit. Ohne sie bist du verloren.»
«Ach Elisa. Ich habe mich schon lange verloren. Und die Suche aufgegeben. Bitte such du auch nicht, du wirst nichts mehr finden.»
Elisa steht wortlos auf, knöpft sich ihre Bluse zu und zieht sich an. Tritt heraus in die kalte Winternacht. Noch nie hat sie so gefroren. Noch nie schnitt ihr der Schnee so ins Gesicht. Noch nie brannten die Tränen auf ihrem eisigen Gesicht so sehr.
Noch nie wollte sie so laut schreien und hatte so wenig Kraft dafür.
Noch nie hatte sie so viel Vergangenheit auf einen Schlag verloren.

2 Kommentare:

typ hat gesagt…

Der Text ist so tieftraurig, passt ganz fabelhaft, wenn man als Leser selbst traurig ist.
Das ist überhaupt was, wo ich mich reinwerfen und mitleiden kann. Nicht nur, weil hier und da ein Satz ist, der auch für mich gilt.
Der Mann ist so fertig, wirkt fast leblos.

Missscheinsein hat gesagt…

Danke für deinen Kommentar. Es ist schön, wenn man sich hie und da in einem Satz wieder erkennt. Ich hoffe, es gelten aber auch viele andere Sätze für dich. Die Schönen und Guten. Die Wundervollen. Die voller Leben!