9. Juli 2012

Wortreich sein.

Die Lektüre liegt auf meinen Beinen. Der Schlüssel zum Sicherheitsschloss ist schon vor Jahren verschwunden. Ich beginne ein Spiel, blättere im Buch und öffne auf einer beliebigen Seite. Ich suche das «G-Wort». Es steht da, in grossen Lettern. Es steht auch auf der nächsten und auf der vorangegangenen Seite. Meine alten Tagebücher haben zweifelsohne eine hohe Frequenz an «Geil», sie zu berechnen wäre müssig. Aber es steht oft da. Und es wird für alles missbraucht. Für Turn- und Handarbeitsstunden, für die Männer, die damals noch Jungs waren, für neue Uhren, erste Küsse, zweite Küsse, neue Jungs, neue Erfahrungen. Einfach alles ist geil. Und was nicht geil war, wurde geil gemacht. So war das nämlich.
Wann mir dieses Wort abhanden und abmunden gekommen ist, bleibt ein Rätsel. Irgendwann, wohl über Nacht, machte es Platz für andere beschreibende Worte wie wunderbar. Eben erwachsenenkonform. 
Worte, Wortgewandtheit und Wortschatz haben sich geändert. Es wird umschrieben und mit Worten Bilder an die Wand gemalt. Amigs wissen wir nicht mehr, was der andere mit seinem Satzgefügen meint. Vorbei ist die Zeit der einfachen, klaren, unmissverständlichen Sprache.
Geil war die Zeit.
Sie war schampar emotional. Der Herzschmerz war noch so jungfräulich und die Folge, der Liebestod, war eine todsichere Sache.
Sie war äusserst wechselhaft. Allerhöchstens zehn Seiten wurden mit demselben Namen geziert. Manchmal standen da drei Namen auf einer Seite. Einmal wurden gar Zahlen davor geschrieben. Gewonnen hat damals übrigens der hier.
Wen ich die Seiten heute lese, erkenne ich mich darin kaum mehr. Ich bin gewiss keine abgestumpfte, emotionslose und biedere Trulla. Und die Angst vor dem Älterwerden hält sich so dermassen in Grenzen, dass ich geradezu als manisch jung durchgehen könnte. Und dennoch. So bitz fehlt mir die Zeit eben schon. Und das Rad, um die ebensolche zurückzudrehen wird wohl erst erfunden sein, wenn ich die Crèmes für die reife Haut ab 80+ schon lange nicht mehr brauche. Jänu, geilen wir die Zeit eben auf. Jetzt.

6 Kommentare:

King Lube III. hat gesagt…

Ich war mehr der Schlechte-Tage-Tagebuch-Schreiber, mit entsprechend dünner Verwendung des "G"-Wortes. Aber selbst heute kann ich nur schlecht darin lesen. Es ist ganz gut, es verschlossen zu lassen ... Nur beim Liebestod könnte ich mitreden.

Missscheinsein hat gesagt…

Die Schlechte-Tage-Tagebücher gibts auch bei mir. Die sind dann aber später datiert. D war das G-Wort bereits aus meinem Wortschatz verbannt. Und mein Herz ist schon an einigen Liebestoden stehen geblieben.
Überhaupt nicht stehen bleiben tut es bei so Liebesbriefe. Wunderschön sind die. Manchmal auch traurig und verzweifelnd und hilflos und sehnsüchtig. Halt so, dass das Herz einfach pöpperlen muss.

King Lube III. hat gesagt…

Wenn man nur auch nochmal seine eigen Liebesbriefe lesen könnte. Ich hätte gerne gewußt, wie ich früher geliebt habe ...

Missscheinsein hat gesagt…

Oder wie man früher geliebt wurde... Mein Lieben war wohl geschmackvoller, jedenfalls hatten die Briefe alle eine Duftnote. Spontaner war sie vielleicht auch. Weniger standhaft. Aber was schreib ich. Eigentlich weiss ich gar nichts darüber, Gefühle sind so unwissend. Zum Glück.

King Lube III hat gesagt…

Sind Gefühle wirklich unwissend oder wissen sie manchmal mehr über uns selbst, als uns bewußt ist? Ich habe da so meine Zweifel ;)

Missscheinsein hat gesagt…

Ich stimme absolut zu. Voll und ganz. Meine Unwissenheit war vielmehr im Sinne von Gefühle wissen nicht, sie fühlen gemeint. Und vielleicht grenzen Gefühle an den Punkt, wo die Sprachlosigkeit beginnt.